Pädagogiken

Geometrische Zentren eines Landes haben etwas Sakrales an sich. Monumente mit Inschriften, Flaggen und Kränze schmücken den Punkt. Sie bilden nicht nur den Mittelpunkt eines Landes. In ihnen kulminieren auch häufig Gründungs- und Staatsidee. Dazu werden sie als Ausflugsziel ausgestattet, mit Sitzbänken, lauschigen Plätzen und gemähtem Rasen. „Der geometrische Mittelpunkt Sloweniens ist einer der beliebtesten Ausflugspunkte“, steht bei visitljubljana.com.

Als mich am Morgen Wirt Zdenko Rajteric vor seiner Gostinice verabschiedet, beginnt es zu regnen. Pünktlich. Ich steige über Serpentinen zum 525 Meter hochgelegenen Dorf Vace, zu deutsch Watsch, auf. In dem kleinen Ort herrscht helle Aufregung. Ein Mann mit grauem Filzhut, es könnte  der Zauberer Merlin sein, legt Kindern ein Zicklein in den Arm. Jedes Kind darf es einmal kurz halten. Dann holt er eine Schlange hervor und hängt sie den kreischenden Mädels und Buben um den Hals. „Das ist tiergestützte Pädagogik“, erklärt mir ein junger Lehrer, der ebenfalls zuschaut.

Der Geometrische Mittelpunkt Sloweniens bei Vace
Der Geometrische Mittelpunkt Sloweniens bei Vace

Unweit von Vace liegt der Geometrische Mittelpunkt Sloweniens. „Wenn Sie schon hier sind, dann müssen sie ihn sich anschauen“, sagt der Lehrer, der aus Lubljana kommt. Dann bekomme auch ich das Zicklein in den Arm und die Schlange um den Hals.

Der Regen nimmt zu. Ich stülpe mir mein Plastikcape über den Kopf, laufe los. Der GEOSS, so die Kurzbezeichnung, liegt verlassen in den wolkenverhangenen Bergen. Die Nationalflagge hängt leblos am Mast. Bei diesem Wetter geht jede pädagogische Wirkung auf den Staatsbürger verloren.

Bekannte

Slowenien ist ein kleines, wie ich empfinde, sehr aufgeräumtes Land. Es hat etwas über zwei Millionen Einwohner auf einer Fläche von gut 20.000 Quadratkilometern und ist damit etwa so groß wie das Bundesland Hessen. Seit 2004 ist der kleine Staat in den Bergen Mitglied der EU und handelt seit 2007 mit dem Euro. Aber kennen Sie bedeutende Persönlichkeiten aus diesem Land? Ich muss meinerseits gestehen: Ich nicht. Das mag durchaus an mir liegen. Belehren Sie mich eines Besseren und verweisen Sie auf auffällige Figuren.

Auf meiner Wanderung ist mir jedoch jemand  ins Auge gefallen, der mich in einer Person auf zwei, nach meinem Wissen bereits verstorbene Figuren der internationalen Musikgeschichte verweist: Elvis Jackson. Meine Nachforschungen ergaben: Elvis Jackson lebt tatsächlich! Die beiden Gesangs-Heroen  bilden in Slowenien mit drei weiteren Musikern eine „Ska Punk Hard Vor Reggae Metal“-Band. Und: Sie sind bereits in Deutschland aufgetreten. Und ich habe das nicht mitbekommen!

Flusstäler

„Ich will weiter nach Celje“, erkläre ich Zdenko Rajteric, Wirt der Gostisce Kimovec in  Zgornji Hotic an der Save. „Da müssen Sie in die Berge“, erklärt er mir mit säuerlichem Lächeln in bestem Deutsch.

30 Kilometer habe ich seit meinem Aufbruch in Ljubljana auf brennenden Fußsohlen zurückgelegt. Allein den Weg aus der Stadt empfand ich als unendlich. Und dann diese Nachricht. Meinen beiden Blasen an den Füßen ist der Gewaltmarsch nicht gut bekommen. Ich benötige eine weitere Auszeit.

Der Bernsteinweg ist, wie viele Handelswege, eine Route durch die Flusstäler. Doch irgendwann geht es in die Höhe. Der Isonzo, den ich bei Gradisca überquerte, entspringt in den Julischen Alpen und mündet bei Triest in die Adria. Durch das fruchtbare Vipava-Tal transportierten die Händler im Altertum, wie auch heute, ihre Waren bis es hinaufging auf das Hochplateau Birnbaumer Wald, die Hrusica. Durch die Region verläuft die Europäische Wasserscheide. Die Save, die mich hinter Ljubljana einen ganzen Tag begleitete, fließt  nach Osten und mündet nach 940 Kilometern bei Belgrad in die Donau.

Oh Jubel Jana

was bist Du schön! Oder heißt Du etwa Emona oder ganz simpel Laibach? Obwohl ich Dich nur unter Schmerzen kennen lerne, denn ich habe mir eine hässliche Blase unter dem linken Fuß herangezüchtet, gefällst Du mir sehr. 2000 Jahre bis Du nun schon alt. Man sieht es Dir nicht an. Die Falten sind vergraben. Den Rest haben die Hunnen hinweggefegt. Die Habsburger sorgten über Jahrhunderte für neuen Glanz. Junges Leben verbreiten heute 60.000 Studenten unter den 280.000 Einwohnern. Diese Vitalität genießen auch die unzähligen Gruppen mit gezückten Kameras aus dem Fernen Osten und Wilden Westen. Ljubljana, Du bist liebenswert, gern würd‘ ich länger verweilen.

Radfahrer

Bei ihnen muss ich mich entschuldigen. Als ich heute früh um neun Uhr zum Frühstück antrete, sitzt bereits ein Trupp von ihnen schweißgebadet vor dem Gasthaus „Stare Posta“ oben auf dem Pass und harrt auf Einlass. Nun hatte allerdings in der Nacht zuvor eine Hochzeitsfeier  in dem Hause stattgefunden, und Wirtsleute wie auch den Wanderer bis um fünf Uhr in der früh mit oberkrainischer Musik gemartert. Die eigentlich ganz flott daherkam, eben mit Klarinette, Tuba und den Juchzern, die erst so recht den Schwung bringen. Also die passionierten Radler sind schon früh dran, und ich darf mich nicht mokieren, wenn sie mir beim Aufstieg zur Mittagszeit gutgelaunt und singend bergab entgegen rollen.

Die Spätaufsteher unter den Pedalofreunden, und die gibt es auch, sehe ich heute bei meinem Abstieg von Ad Pirum nach Vrhnika, müssen leiden. An einigen fiesen Abschnitten bin ich schneller als der aufsteigende Radfahrer.  Fast möchte ich zu Hilfe eilen und sie anschieben. Wanderer und Cyclisten grüßen und mögen sich. Für beide ist es eine körperliche Herausforderung. Im Gegensatz zu den motorisierten Zweiradfahrern,  die heute am Sonntag in Rudeln unterwegs sind.

Auf dem Pass

Wie schafften es eigentlich die Römer, zu ihrer Station Ad Pirum (Zum Birnbaum) auf eine Passhöhe von 883 Meter zu gelangen? Nun gut, die haben ganz andere Dinge vollbracht. Trotzdem bemerkenswert. Vielleicht findet sich ja ein Experte, der das erklären kann. Zunächst hatten sie nur eine Poststation oben in der Hrusica, dem Birnbaumer Wald. Später bauten sie die Anlage zu einem Militärstützpunkt aus, der den Handelsweg und damit auch den Bernsteintransport von Carnuntum an der Donau über Emona (heute Ljubljana) bis nach Aquileia an der Adria sicherte.

Mit großem Respekt begebe ich mich am Morgen auf den Weg von Ajdovscina zum Hrusica-Pass. Die Straße führt ständig bergan. Heute kommt mir die Wetterlage zu Hilfe: Der Himmel ist bedeckt. Der Straßenverkehr mäßig. Ich steige höher, es wird ruhiger. Hechelatmung. An steilen Abschnitten muss ich pausieren.

Der Ausblick über Dörfer und Täler wird imposanter. Ich fotografiere. Faszinierend die Vielfalt der Flora am Straßenrand. Kaum beachtet Mauerblümchen, Kantsteinkraut und Asphaltpflanzen in allen Farben.

Radfahrer rasen vorbei. Nicht einer überholt mich schnaufend. Es verfestigt sich der Eindruck, die Pedalritter werden nach oben transportiert, um dann, wie einige laut singend, ins Tal zu rollen. Hinter Podkraj wird die Landschaft nahezu lieblich. Gepflegte Häuser, in den Gärten wächst Gemüse. Die Bauern mähen und wenden das Gras. Am Waldrand stehen Bienenstöcke. Eine Landschaft, von der Tourismusindustrie übersehen.

Nach fünf Stunden habe ich es geschafft und erreiche das Gasthaus „Stara Posta“. Rudimente von breiten Felsmauern ziehen sich beidseitig der Straße die Hügel empor. Ein kleines Schild mit der Aufschrift „Rimska Cesta“ verweist auf die 2000 Jahre alte römische Handelsroute und die Überreste der Station Ad Pirum.

Der Opernsänger aus Vipava

„Sie müssen unbedingt nach Vipava gehen“, rät mir ein stattlicher älterer Herr am Tresen eines Cafes in Dobravlje, als ich mir ein großes kaltes Mineralwasser bestelle. Mein Wasservorrat ist erschöpft. Der Rucksack hat erfreulich an Gewicht verloren. Ich habe furchtbaren Durst.

Gestern, pünktlich um sieben Uhr, bin ich in Bilje losgegangen. Die Mittagszeit ist weit überschritten, und nach 25 Kilometern Fußmarsch habe ich noch etwa fünf Kilometer vor mir.

Der Mann hat bemerkt, dass ich Deutscher bin. „Der Fluß Vipava, der in der Stadt entspringt, ist der einzige der Welt“, behauptet er großspurig, „der sein Delta an der Quelle hat.“ Sehr sehenswert! Mehrere Quellen verbinden sich an seinem Ursprung. Er gibt nicht nur dem Ort seinen Namen, sondern auch dem gesamten Tal, in dem wunderbare Weine wachsen, wie die heimischen Sorten Zelen und Pinela. Natürlich ist der freundliche Aufschneider in dem einzigartigen Städtchen Vipava geboren.

Er kommt weiter ins Plaudern. Stolz erzählt er, dass er früher Opernsänger in Wien war. „Das hört man doch an meiner Stimme.“ Seine musikalische Ausbildung habe er bei Alfred Burgstaller genossen. Jetzt, da er pensioniert ist, genießt er es, bei jeder Gelegenheit Deutsch zu sprechen.

Heute bleibe ich doch noch in Ajdovscina, entscheide ich am Morgen. Die Kleinstadt habe ich mir gestern angesehen. Ich mache einen Ausflug mit dem Bus nach Vipava. Über den besonderen Ursprung des Flusses hatte ich bereits gelesen.

Im Wandermodus

Im Wandermodus nach fast 30 Kilometern Hitzeschlacht fällt es schwer, etwas halbwegs Vernünftiges in die Tablet-Tastatur zu bekommen. Habe es gestern zunächst nicht bemerkt, dass ich in dem Dörfchen Miren  die italienisch-slowenische Grenze überschreite. Es war eine Abkürzung über einen Schotterweg. Und plötzlich stehe ich in dem jungen Bergstaat. Keine Fragen, keine Passkontrolle. Das gilt für die EU. Und das ist gut so. Ich habe anderes erfahren.

Mit schweren Beinen erreiche ich die Jugendherberge Ajdovscina. Ein moderner Bau, am Rande der Stadt, neben dem Flüsschen Hubelj. Scheinbar mit EU-Geldern unterstützt, eine sinnvolle Investition für die Jugend. Und ich gehöre dazu. Wunderbar. Nein wirklich, man hat mich sehr freundlich aufgenommen. Weitere Jugendliche habe ich allerdings noch nicht gesehen. Aber die Saison beginnt erst.

Ajdovscina war zur Römerzeit ein befestigtes Lager mit dem Namen Castra. Es sicherte die Handelsroute von Aquileia nach Norden, die heute auch Bernsteinstraße genannt wird. Teile der Befestigungsmauer und einer der 14 Rundtürme sind gut erhalten und Ziel meines Stadtrundganges.

Via Zona Sacra

Ich hab’s befürchtet. Der Text ist futsch. WLAN war zu schwach. Ich hatte doch eigentlich alles gespeichert! Soll ich es noch einmal versuchen?

„Gehen Sie nicht an der Straße neben dem Fluß“, rät mir das Fräulein an der Rezeption im Hotel Franz in Gradisca d’Isonzo, „der Verkehr ist zu stark und es gibt keinen Fußweg.“ Ich entscheide mich für eine Abkürzung über die Hügel. „Es sind schon andere dort gewandert“, ruft Sie mir noch hinterher.

Am Abend zuvor habe ich mir Gradisca d’Isonzo angesehen. Die Altstadt mit dem großen Theater, unschwer zu erkennen, dass einst die Habsburger hier herrschten. Besonders beeindruckend das Kastell aus venezianischer Zeit mit seinen massiven Mauern, das nach Vorgaben von Leonardo da Vinci erbaut wurde. Die Brücke über den breiten Fluß ist keine Schönheit, der Blick in die Ferne jedoch malerisch.

Gleich hinter dem Fluß, in Poggio Terza Armata, geht es am Morgen bergan. Auch die Temperaturen schieben sich, allerdings problemlos, schon früh nach oben. Den Autos bin ich ausgewichen. Das Hinweisschild für die Fahreuglenker nehme ich jedoch wahr: 9 Prozent Steigung!

Mein erstes Ziel, San Martino del Carso liegt etwa 2 km entfernt. Nach wenigen Minuten bin ich schweißnass. Alle 50 Meter brauche ich eine Pause zum Durchatmen. Jede Kurve verbinde ich mit der Hoffnung, dass es dahinter nicht mehr bergan geht. Doch die Strecke ist wunderschön.

Hin und wieder kommen mir Radrennfahrer, mit grellen Farben bedresst, entgegen geschossen. Sie sind schlau: In der Morgenfrische ackern sie sich auf den Hügel, abwärts geht es in der Hitze. Der Fahrtwind erfrischt. Es radelt sich von selbst.

Dann, endlich, erreiche ich ziemlich erschöpft den kleinen Ort. Ein älterer Herr mit fliegendem Unterhemd und türkisfarbener Fahrradhose kommt auf einem Motorroller angeknattert. Er sieht mich etwas orientierungslos vor zahlreichen Hinweisschildern stehen. Groß akklamiert wird die „Zona Via Sacra“. Der Mann spricht nur italienisch, und ich verstehe: In der Nähe gibt es ein interessantes Weltkriegsmuseum. Frisch erholt, dankbar für den Vorschlag, werfe ich meine 10 Kilo wieder auf den Buckel und marschiere los.

Kaum bin ich um die Kurve, geht es wieder bergan. Später lese ich, dass der Mont San Michele 275 Meter hoch liegt. Doch der Blick ins Tal entschädigt für die zusätzlichen Strapazen.

Vor dem Museumsgebäude stehen zahlreiche Geschütze aus dem Ersten Weltkrieg und recken ihre Rohre bedrohlich in die Ebene. Militärstrategisch liegt der Berg optimal. Bei guter Fernsicht kann man das Friaul bis hin zur Adria kontrollieren. Die Höhen des Mont San Michele waren hart umkämpft. Die Opferzahl der Isonzoschlachten, benannt nach dem Tal, durch das sich die Fronten zogen, geht bis in die Million.

Holpriger Start

Das Fazit vorweg: Ja, es geht (sich) noch. Mit heißen Sohlen meiner Deichmann-Sandaletten, die siebenmal teureren Trekking-Schuhe von Globetrotter schwitzen im Rucksack, erreiche ich bei über 30 Grad gegen 14 Uhr und nach 20 Kilometer Straßenpflaster Gradisca d’Isonzo.

Fünf Uhr ist es, als ich in meinem Mobilhome auf dem Campingplatz in Aquileia aufwache. Ist es die Aufregung vor dem Start? Erst gegen acht Uhr empfängt mich die Dame in ihrem Campingplatzbüro.

Bevor ich diesen bedeutenden Ort verlasse, Aquileia hatte zur Römerzeit über 100 000 Einwohner und war viertgrößte Stadt im Reich, will ich wissen, ob ihr der Begriff Bernsteinstraße etwas sagt. Sie schüttelt den Kopf. Nicht, dass sie mich nicht versteht, sie spricht hervorragend Deutsch. Nein, sie hat nie etwas von dieser Route gehört. In dem Ort, an dem die Bernsteinstraße endet, ist sie offenbar kein Thema.

In deutscher Sprache sind kürzlich einige neue Bücher über die alte Handelsroute erschienen. Natürlich gibt es im Archäologischen Museum Aquileias zahlreiche altertümliche Exponate aus baltischem Bernstein. Ich konnte mich davon überzeugen. Erklärungen dazu, wie das kostbare Material an die Adriaküste gelangte, habe ich nicht entdeckt.

Mein Bernsteinweg führt also quasi zurück, dorthin, wo das Material gewonnen wurde. Heute, auf meiner ersten Etappe, verläuft er durch die flache, fruchtbare Landschaft Friauls mit Weinstöcken, Mais- und Getreidefeldern in Richtung Gorizia zur Slowenischen Grenze. Die Straße zwischen Aquileia und Villa Vicentina ist frisch asphaltiert, und schon beginnt der Kampf mit den Autofahrern. Immer wieder weiche ich in das hohe Gras am Straßenrand aus. Ich befürchte, er wird den nächsten Wochen anhalten. Und ich hoffe, dass er nicht entschieden wird.