Psycho in Großsonntag

Es ist schwül. Ein Gewitter hat sich entladen, weitere Gewitterwolken drohen über den Hügeln. Regenwasser fließt noch durch den Rinnstein der kleinen Straße in Velika Nedelja.

Zwanzig Kilometer habe ich heute von Ptuj bis hierher zurückgelegt. Da entdecke ich eine Villa. Sie kommt mir bekannt vor. Tatsächlich, sie ist es: die alte Villa von Norman Bates. Hier hat der schreckliche Mord in der Duschkabine stattgefunden. Nein, hier wollte ich nicht um ein Nachtquartier bitten.

Neben dem Haus führen Stufen auf einen Hügel. Ein junger, schlanker Mann mit dunklen Haaren tritt vor die Tür der grüngestrichenen Villa. Hat er nicht das Aussehen von Anthony Perkins? „Führen die Stufen hinauf zur Burg Velika Nedelja?“, frage ich ihn. „Ich verstehe kein Deutsch!“, ruft er mir zu. Und einen Augenblick später: „Ja, richtig, zur Burg, nur 200 Meter!“

Vor dem massigen Burggemäuer ist eine Kulisse mit Zuschauertribünen aufgebaut. Niemand ist zu sehen. Das Burgtor steht offen. Ich trete ein. Auch im Innenhof herrscht Stille. Die Türen zum Gebäude sind nicht verschlossen. Im ersten Stock steht auf einem Schild „Museum“, daneben klebt ein Zettelchen mit einer Telefonnummer.

In der Burg Velika Nedelja befindet sich eine Außenstelle des Ptujsker Museums, und die hat sonntags nicht geöffnet. Einst hießen Burg und Siedlung „Großsonntag“. Der Deutsche Orden hatte den Flecken für seine Unterstützung der Schlacht am Ostersonntag auf den Pettauer Feldern im Jahre 1199 erhalten.

Laura und Patrick aus Colorado vor der Burg Großsonntag
Laura und Patrick aus Colorado vor der Burg Großsonntag

Als ich wieder an die Straße komme, spricht mich ein Paar in Fahrradmontur an, im besten Amerikanisch. Nein, mit dem düsteren Haus von Norman Bates haben sie nichts zu tun. Sie wollen bei Ormoz über die Drava einen kurzen Abstecher nach Kroatien machen. Laura und Patrick kommen aus Fort Collins, Colorado. Sie sind auf Fahrradtour durch Slowenien.

Und über das düstere Haus aus dem Hitchcock-Film, habe ich herausgefunden, kann man sich in den „Universal Studios“ in Florida gruseln.

Wacker Burghausen

Die kleine Stadt Ptuj an der Drava wirkt auf den ersten Eindruck etwas einsam. Die malerischen Häuser der Altstadt stehen sich verlassen in den schmalen Gassen gegenüber und warten auf neue Farbe, neue Fenster und Dächer, manche auch auf Bewohner. Sicher, einige dieser schönen, aber vernachlässigten Gebäude haben sich schon heute herausgeputzt. Besonders das Schloss, das über dem Ensemble thront, sticht mit frischem Antlitz und musealen Kostbarkeiten hervor.

Doch heute spüren die alten Mauern, wie es ist, wenn Straßen und Plätzen Leben eingehaucht wird. Sportler aus den Partnerstädten sind zu Gast und laufen, hecheln und schnaufen durch die Altstadt um die Wette. Immer im Kreis von zwölf bis 20 Uhr. Auf dem Platz vor dem Rathaus feuern Läufer und Fans sich lautstark auf Kroatisch, Serbisch, Slowakisch, Mazedonisch und auch auf Deutsch an, übertönen sogar die Beschallung durch die Bühnenlautsprecher.

Hin und wieder quellen Hochzeitsgesellschaften aus dem Rathaus, wo sich Start und Ziel befinden. Samstags wird in Ptuj geheiratet. Und dazu gehört zünftige steirische Blasmusik. Da kann man keine Rücksicht nehmen. Auch die deutschen Sportler aus dem bayrischen Burghausen kommen schon mal ins Gedränge. Sie sind an ihren gelben „Wacker“-Trikots gut zu erkennen.

Läufer von Wacker Burghausen
Läufer von Wacker Burghausen

„Das wird alles nicht so ernst genommen“, sagt mir der Delegationsleiter, der sich unter einem Sonnenschirm aus sicherer Entfernung alles anschaut. Seine Aufgabe ist es, den Kontakt zu den Partnerstädten zu halten. Aufenthalt und Übernachtung werden von der Stadt Ptuj bezahlt, erzählt er mir. Nur die Fahrtkosten sind zu tragen. Es ist der sechste Lauf der Partnerstädte.

Nach dem Wochenende, wenn alle Sportler wieder daheim sind, und für die frisch Vermählten der Alltag beginnt, sind Ptujs Häuser wieder unter sich und warten weiter auf Zuwendung.

Evas Hostel

„Ptuj – eine Schatzkammer der Jahrtausende und die älteste besiedelte Stadt Sloweniens – nimmt den Besucher mit auf eine unvergessliche Entdeckungsreise durch die Vergangenheit“, so die blumige Stadtwerbung. Tatsächlich ist der Flecken schon uralt. Schon in der Jüngeren Eisenzeit siedelten hier die Kelten. Die Römer errichteten ein Militärlager und nannten den Ort später Poetovio. Dann ging die Stadt über Jahrhunderte an das Salzburger Erzbistum und die Österreicher gaben ihr den Namen Pettau. Wesentlich für die vorteilhafte Entwicklung war die verkehrsgünstige Lage an der Bernsteinstraße.

Ich erreiche gegen 18 Uhr ziemlich am Ende meiner Kräfte die „zweifellos malerischste Stadt“ (Eigenwerbung) über die Drava-Brücke. Stadt und das darüber thronende Schloß leuchten im Abendlicht. Übers Internet habe ich mir eine günstige Unterkunft ausgesucht: das „Hostel Eva“.

Doch als ich an die Hostel-Tür klopfe, ist Eva nicht zu Hause. Ein etwas verschlafener Typ macht mich auf eine Telefonnummer im Fenster aufmerksam. Tatsächlich erreiche ich einen Menschen, der gutes Englisch spricht unter der slowenischen Nummer. Er will Eva informieren. „Wait only 15 minutes!“ Kurz darauf bekomme ich eine SMS: „Please wait a little bit longer. I can’t reach the Lady now.“

P1010980~2~2~2Nach einer Dreiviertelstunde kommt die aufgeblondete Eva im Auto angesaust, zeigt mir Raum und Sanitäranlagen, händigt mir Haus- und Zimmerschlüssel aus. Ich gebe ihr dafür 16 Euro. Die geschäftstüchtige Hostelbetreiberin setzt sich wieder hinters Lenkrad und verschwindet. Ich bin froh, nach meinem Gewaltmarsch eine Schlafgelegenheit gefunden zu haben. Doch nach Nutzung der Sanitäranlagen bemerke ich, dass meine Wahl eine Fehlentscheidung war. Näheres möchte ich nicht ausführen.

Am nächsten Morgen, bevor Eva kommt und für eine zweite Nacht abkassieren will, schnüre ich meinen Rucksack und wechsele in ein Hotel. Es trägt den römischen Stadtnamen „Poetovio“.

Der Eismann aus Maisperk

„Nur noch gut zehn Kilometer“, verspricht mir Arben, der Eismann aus Maisperk. Dabei weiß ich ganz genau, dass es noch mindestens 15 Kilometer sind, die ich bis Ptuj zurücklegen muss. Alle freundlichen, mir wohlgesonnenen Leute, die ich am Wegesrand treffe, wollen mir Mut machen und rechnen mir die Kilometerzahl schön. Natürlich habe ich auf der Strecke keinen Hinweis auf eine Unterkunft gefunden. Und so werden es 36 Kilometer, laut Google maps. Die Füße tragen von acht bis 18 Uhr.

Arben, der Eismann stammt eigentlich aus Mazedonien. Sein Sohn ist in Slowenien geboren. Er geht noch zur Schule. Seine Schwester lebt seit Jahren in Bochum. Er besucht sie hin und wieder. Dabei frischt er auch seine guten Deutschkenntnisse auf. Seine wirtschaftliche Situation schätzt er recht positiv ein. Jedenfalls was seinen Eisverkauf betrifft.

Bis 2008 ging es nach dem EU-Betritt für ihn und die meisten Freunde und Bekannten aufwärts. Dann kam die Finanzkrise. Die Arbeitslosigkeit, insbesondere unter den jungen Slowenen, stieg. Seine Frau, die als Krankenschwester arbeitet, verdient heute etwa ein Drittel weniger. „Ich überlege, ob ich für sechs Monate ins Ausland gehe, um dort nach der Saison zu arbeiten, vielleicht nach Deutschland, ohne die Familie.“ Sein Sohn, der sich hinter ihm versteckt, scheint das nicht gern zu hören.

Marienwallfahrtskirche von Ptujska Gora
Marienwallfahrtskirche von Ptujska Gora

Ich sehe, als ich mich von Arben verabschiede, dass die Straße nach Ptujska Gora jetzt über Serpentienen steil bergan führt. Dort oben auf einem Hügel steht die beliebte Marienwallfahrtskirche, von der man bis nach Österreich blicken kann. „Es geht nicht so lang hoch, nur 500 Meter“, ruft Arben mir nach. Ich habe das Gefühl, dass die Steigung mindestens doppelt so weit anhält.

P.S. Maisperk und die Höhe von Ptujska Gora sind längst Wandergeschichte. Da hupt plötzlich ein kleiner Renault-Kombi neben mir und hält. Es ist der Eismann mit seinem Sohn. Fröhlich winkt Arben aus dem Auto und ruft mir zu: „Sie haben ihre Karte, ihren Plan vergessen!“ Ich bedanke mich herzlich und verabschiede mich ein zweites Mal. „Ist doch kein Problem“, sagt der Eismann und braust davon.

Dobre dan

„Dan“. „Dan“. „Dan“. Eigentlich ja „dobre dan“, „guten Tag“. Mit einer Art norddeutschem „Moin“ grüßen auf meinem Weg nach Loce freundlich Radfahrer, die sich neben mir die Hügel (oder sind es Berge?) hochstemmen oder Gartenfreunde, die ihr Unkraut zupfen.

In dem kleinen Loce habe ich mit Hilfe der Tourismus-Information in Celje im Hotel „Penzion Kracun“ ein Zimmer, das letzte freie, vorbuchen können. Weitere Unterkünfte gibt es in der Region bis nach Ptuj, meinem nächsten interessanten Ziel entlang der Bernsteinstraße, nach meinen Recherchen und Auskunft der Tourismus-Experten nicht.

Wie kann das sein? Ich laufe über 25 Kilometer durch eine liebliche Landschaft mit immer neuen Fernblicken, die mich erst an Masuren und dann, als die Hügel zu Bergen werden, an das Ällgäu erinnert. Die Sonne scheint, Mais und Getreide stehen auf den Feldern. An den Obstbäumen reifen Äpfel, Birnen und Pflaumen. Kirschen sind abgeerntet. Große Walnussbäume stehen neben den Häusern. Weinreben schützen Terrassen vor Blicken Fremder. Neben fast jedem Gebäude gibt es ein Fleckchen, auf dem Gemüse angebaut wird: Bohnen, Zwiebeln, Kartoffen, Möhren und Porree. Für den Eigenbedarf, für die Familie.

Die Menschen auf dem Land sind nicht besonders wohlhabend, so scheint es. Aber sie leben in einer heilen Landschaft, die wie für „Ferien auf dem Bauernhof“ geschaffen ist. Und doch habe ich auf meinem Weg durch Slowenien bisher nicht einen Hinweis auf eine private Unterkunft entdeckt. Eine Möglichkeit für Hausbesitzer,  eine kleine Nebeneinnahme zu erzielen. Und wenn ich morgen in den Dörfern nicht erstmals ein Schild mit der Aufschrift „Sobe“, „Rooms“ oder „Zimmer“ entdecke, dann liegen fast 40 harte Kilometer Fußmarsch bis nach Ptuj vor mir.

Römische Nekropole

Wie wichtig es vermeintlich bedeutenden Menschen ist, sich auch nach dem Ableben der Nachwelt eindrucksvoll zu präsentieren, ist auf dem größten Parkfriedhof Europas in Hamburg-Ohlsdorf zu sehen. Neben künstlerisch angefertigten Grabsteinen ragen monumentale, überbordende Skulpturen, ja kleine Gedenkstätten zwischen den mächtigen Rhododendren der Parkanlage empor.

Das gab es auch schon bei den alten Römern. Oder haben wir den Brauch von ihnen übernommen? Ich weiß es nicht. Wäre schön, wenn sich ein Altertumskundler oder überhaupt ein kundiger Mensch dazu äußern würde! Fußblasen-Experten haben sich ja zu Wort gemeldet.

Darstellung aus dem Archäologiepark Carnuntum: Grabstätten entlang der Handelsroute
Darstellung aus dem Archäologiepark Carnuntum: Grabstätten entlang der Handelsroute

Jedenfalls, entlang der Bernsteinstraße von Ljubljana (röm. Emona) über den Pass bei Trojane (röm. Atrans) stoße ich in Sempeter, wenige Kilometer vor Celje (röm. Celeia), auf ein kleines Wunder. Vor 2000 Jahren erstreckte sich neben der Straße eine Reihe von Grabstätten wichtiger Personen aus Celeia. Im 3. Jahrhundert gab es in dem Gebiet eine sintflutartige Überschwemmung, weiß man heute. Die Savinja, ein Nebenfluß der Save, suchte sich ein neues Bett nahe der römischen Nekropole. Grabsteine und Monumente stürzten ins Wasser. Schotter und Schlamm verdeckten sie über Jahrhunderte.

Durch Zufall wurde die Grabanlage 1952 wiederentdeckt. Bauarbeiter stießen bei Erdarbeiten auf die Skulptur einer sitzenden Frau. Einige Jahre nach den Ausgrabungen wurde der Archäologische Park in Sempeter eröffnet. Seine Grabmonumente gehören heute zu den wichtigsten und am besten erhaltenen Denkmälern aus der Römerzeit in Mitteleuropa.

Grabmal in Sempeter
Grabmal in Sempeter

„Die verzierten Monumente waren einst mit Farben bemalt“, erklärt mir die Leiterin des Parks, die ihre Gäste in einer römischen Tunika empfängt und freundlich Auskunft gibt. Gern stellt sie sich für ein Foto in Positur.

Die aufwendig verarbeiteten Grabmonumente kosteten ein Vermögen. Je wichtiger und wohlhabender die Personen waren, desto größer und kostbarer waren die Grabmale. Und die Bedeutung der Verstorbenen wurde auch nach außen gezeigt. Sie verschwanden nicht wie heute hinter dicken Hecken oder hohen Mauern der Friedhöfe. Die Grabstätten von Sempeter erstreckte sich über zwei Kilometer parallel zum stark frequentierten römischen Handelsweg. „Und Bürger, die sich keine Grabstätte leisten konnten“, sagt die Expertin des Archäologieparks, „kamen in Brunnen.“

Blasen-Stopp in Celje

Nein, das Foto werde ich nicht zeigen, das von meiner Fünf-Mark-Stück großen Blase unter dem Fuß. (Wer erinnert sich überhaupt noch an Fünf-Mark-Münzen?) Das Foto ist einfach zu eklig. Sollte ich überhaupt davon sprechen?

Kluge Rezepte liegen ja vor. „Wenn’s schon blutig und entzündet ist“, schreibt Heinz, hilft nur Beinwell. „Warme Bäder mit den frischen Kräutern, nachts diese (vorher gesäuberten) Kräuter in die sauberen Socken stopfen“, das wirke Wunder. Und Rüdiger weist darauf hin, welches Mittel auf keinen Fall empfehlenswert ist.

Kurz vordem Ziel in Zalec: Wer hat das Schild dorthin gestellt?
Kurz vordem Ziel in Zalec: Wer hat das Schild dorthin gestellt?

Nun gut, lassen wir das Thema. Auf jeden Fall zwingt mich mein Blasen-Stopp zu einer dritten Nacht im MCC-Hostel in Celje. Immerhin mit eigenem Acht-Bett-Raum (vier Etagen-Betten) für 15 Euro ohne Frühstück, mit Gemeinschaftsduschen und WC und mit permanenter Musik-Beschallung ab sieben Uhr, sobald ich mein Zimmer verlasse. Zum Glück sind viele „Oldies“ aus den Fünfziger und Sechzigerjahren darunter.

Wie ist es zu erklären, dass ich mich in den einfachen, zum Teil mangelhaft, aber mit individueller Handschrift ausgestatteten, häufig geräumigeren Unterkünften, besser aufgehoben fühle, als in durchgestylten, gleichförmigen und rationaliserten, stimmungsgedimmten Vier- oder Fünf-Sterne-Hotels? Es liegt wohl an mir.

Nach der Hitze-Etappe von Aquileia nach Gradisca d’Isonzo, der ersten überhaupt, gönnte ich mir „etwas Gutes“ quasi zur Belohnung. Eine Übernachtung im Hotel „Franz“. Allein der Name des Österreichischen Kaisers steht für Renommee. In diesem „Herz der Gastlichkeit“ tragen „Lichter, Formen, Farben, Geschmäcker“ dazu bei, „das Ambiente, Situationen und Augenblicke intensiv und emotional zu spüren und zu erleben“, so die Eigenwerbung.

Es fehlt wirklich nichts. Service freundlich, Frühstück hervorragend. Ein großes Außenschwimmbad lockt. Doch mir mangelt es an Muße die Annehmlichkeiten zu genießen. Wäsche waschen,  beim obligatorischen Stadtrundgang fotografieren und auf den nächsten Wandertag vorbereiten haben Vorrang. Der Hotel-Komfort ist jedoch im Übernachtungspreis eingeschlossen. Eigentlich reichen Bed & Breakfast aus.

Gedanken und Blitze

„Ha no, s’isch dem Fritz sei Wetter“, frohlockte Sepp Herberger vor wichtigen Länderspielen, wenn es so richtig goss und der Platz halbwegs unter Wasser stand. Solche merkwürdigen Sätze murmele ich vor mich hin, als ich in Deckung vor dem Gewitterschauer gehe. Was löst solche Gedanken plötzlich aus?

Nein, mein Wetter ist es ganz und gar nicht. Ich habe gerade unter großer Anstrengung von Vrdriga über Itzlake die Serpentinen zum Trojane-Pass gemeistert und stecke jetzt mitten im Gebirgswald, eingeklemmt zwischen einer Art Bundesstraße und einer Autobahntrasse. Kein Haus, keine Menschenseele. Nur Autos, die mich, am Straßenrand laufend, mit Wasser bewerfen und keine Angst von Aquaplaning haben.

Es blitzt und kracht. Der Donner hallt in den Bergen. Ich dränge mich an einen gewaltigen Pylon eines Autobahnviadukts, das in 50 Meter Höhe über mich hinweg führt und mich zumindest vor dem Regen schützt. Die Lastkraftwagen über mir rütteln und ächzen. Ihre Fahrgeräusche übertragen sich auf den gewalten Pfeiler, an den ich mich presse.

Ich kann nicht mehr weiter, und der Regen will nicht aufhören. Nach wohl einer Stunde greife ich zum Äußersten. Ich strecke meinen rechten Arm aus und halte ihn, Daum nach oben, den Autofahrern entgegen. Ich kapituliere. Es ist zu gefährlich, und die Lage scheint sich nicht zu verbessern. Einfach trostlos.

Doch was passiert? Nichts! Kein Autofahrer hält an. Wer will schon einen völlig durchnässten Kerl, der einem vollkommen fremd ist, in sein sauberes und trockenes Auto einsteigen lassen. Es ist Samstagnachmittag. Man war oder will noch an Schwiegermutters Kaffeetafel. Nein, das passt jetzt gar nicht. Und außerdem, der hat sich doch selbst in diese Situation gebracht.  Wie kommt der überhaupt dahin?

Dann, endlich, verziehen sich Blitz und Donner. Doch es regnet weiter. Was bleibt mir anderes übrig: Ich wechsel auf die linke Straßenseite und laufe, angetrieben durch die verzwickte Lage, doppelt so schnell in meiner kurzen Hose und mit dem 10-Kilo-Rucksack auf den Schultern in Richtung Vransko. Dort soll es eine Übernachtungsmöglichkeit geben.

Unterkünfte sind auf dem Lande in Slowenien rar gesät. Nach zwei Stunden stehe ich endlich völlig erschöpft, aber erleichtert unter der Dusche im Hostel „Golobcek Pizza & Bed“ mit angeschlossenem Motorradmuseum, das am Wochenende leider geschlossen hat.

Und als das heiße Wasser auf mich niederprasselt, kommen mir wieder so merkwürdige Gedanken. Diesen Weg, so in etwa, sind auch die römischen Söldner marschiert. Die Frage ist vielleicht profan: Wie haben die sich eigentlich verhalten, wenn Blitz und Donner sich über ihnen zusammen brauten? Ein schützendes Autobahnviadukt gab es noch nicht.

Im Bärenwald

Es bleibt nicht aus. Wenn mitten im Slowenischen Deutsch gesprochen wird, dann hört man hin. So geschehen im Restaurant des Hotels „Pri Vidrgarju“ in Vidrga. Drei graumelierte Herren sitzen an einem Tisch unweit von mir entfernt und unterhalten sich lautstark. Einer fragt seinen Gegenüber: „Kannst Du mir einen Bären besorgen?“ „Na, das ist ganz schwer“, antwortet der Befragte, „im Herbst werden nur drei zum Abschuss freigegeben.“ Darauf hätten dann die Familien Soundso und Soundso und auch die Anderen noch ein Anrecht. Da muss man schnell sein! Schade.

Am nächsten Morgen treffe ich beim Frühststück den Herren mit den vermeintlich guten Beziehungen, entschuldige mich fürs Mithören und frage ihn: „Wieviel Bären gibt es denn in Slowenien schätzungsweise?“ „Das weiß ich nicht“, antwortet er. „Haben Sie schon einmal einen gesehen?“ „Nein, aber nach den Tatzenspuren zu urteilen, werden sie etwa hundert Kilo schwer.“ „Gut, dass ich noch keinem begegnet bin“, denke ich. Aber einen gekostet habe ich schon. Oben auf dem Pass, in Hrusica, im Birnbaumer Wald. Auf der Speisekarte des Hotels „Stara Posta“ stand „Bärenbraten mit Beilagen“. Es musste sein. Einmal einen Bären verspeisen. Das dunkle Fleisch mit der köstlichen Sauce schmeckte hervorragend, ähnlich wie ein guter Rindsbraten. War nur teurer. Hoffentlich hat man mir keinen Bären aufgebunden.

Pädagogiken

Geometrische Zentren eines Landes haben etwas Sakrales an sich. Monumente mit Inschriften, Flaggen und Kränze schmücken den Punkt. Sie bilden nicht nur den Mittelpunkt eines Landes. In ihnen kulminieren auch häufig Gründungs- und Staatsidee. Dazu werden sie als Ausflugsziel ausgestattet, mit Sitzbänken, lauschigen Plätzen und gemähtem Rasen. „Der geometrische Mittelpunkt Sloweniens ist einer der beliebtesten Ausflugspunkte“, steht bei visitljubljana.com.

Als mich am Morgen Wirt Zdenko Rajteric vor seiner Gostinice verabschiedet, beginnt es zu regnen. Pünktlich. Ich steige über Serpentinen zum 525 Meter hochgelegenen Dorf Vace, zu deutsch Watsch, auf. In dem kleinen Ort herrscht helle Aufregung. Ein Mann mit grauem Filzhut, es könnte  der Zauberer Merlin sein, legt Kindern ein Zicklein in den Arm. Jedes Kind darf es einmal kurz halten. Dann holt er eine Schlange hervor und hängt sie den kreischenden Mädels und Buben um den Hals. „Das ist tiergestützte Pädagogik“, erklärt mir ein junger Lehrer, der ebenfalls zuschaut.

Der Geometrische Mittelpunkt Sloweniens bei Vace
Der Geometrische Mittelpunkt Sloweniens bei Vace

Unweit von Vace liegt der Geometrische Mittelpunkt Sloweniens. „Wenn Sie schon hier sind, dann müssen sie ihn sich anschauen“, sagt der Lehrer, der aus Lubljana kommt. Dann bekomme auch ich das Zicklein in den Arm und die Schlange um den Hals.

Der Regen nimmt zu. Ich stülpe mir mein Plastikcape über den Kopf, laufe los. Der GEOSS, so die Kurzbezeichnung, liegt verlassen in den wolkenverhangenen Bergen. Die Nationalflagge hängt leblos am Mast. Bei diesem Wetter geht jede pädagogische Wirkung auf den Staatsbürger verloren.